Horst Stern

Individuelle Spiritualität – liegt darin die Zukunft?
Der Yoga-Experte Heinz Grill vertritt das Anliegen, Spiritualität aus den engen Grenzen von Konfessionen und Gruppen zu befreien/Teil 1

 

Wer an Religion oder Spiritualität denkt, verbindet meistens damit die Vorstellung, dass dies in einer Kirche oder innerhalb einer spirituellen Bewegung (z. B. einem anthroposophischen Lesekreis) stattfindet. Die Philosophie einer individuellen Spiritualität betont dagegen eine spirituelle oder religiöse Entwicklung, die bewusst auf Gruppenzugehörigkeit verzichtet. Die Selbstbestimmung des Einzelnen und die aktive Auseinandersetzung mit Inhalten sind wichtige Elemente dieser individuellen Spiritualität. Der Yoga-Experte Heinz Grill sieht in diesem Ansatz die Möglichkeit, dass sich heute der einzelne Mensch in seinen spirituellen Möglichkeiten entdecken lernt.

Was bedeutet eigentlich individuelle Spiritualität? Was heißt es, dass individuelle Spiritualität auf eine Führungsfigur, Gruppenbildung und Institutionalisierung verzichtet? Wo liegen reale Schwierigkeiten von Religion/Spiritualität, die innerhalb von Gruppen oder Institutionen stattfindet?

Mit diesem Artikel lade ich Sie ein, über eine zukünftige Möglichkeit von Spiritualität nachzudenken und damit einen Ansatz kennenzulernen, der in unserer deutschsprachigen Kultur noch weitgehend unbekannt ist.

„Mein Anliegen ist es jedenfalls, dass Spiritualität aus allen engen Konfessionen und Gruppierungen befreit wird
und sich der Einzelne langsam in seinen spirituellen Fähigkeiten entdecken lernt.“

 

Was bedeutet individuelle Spiritualität?

Individuelle Spiritualität bedeutet, dass der einzelne Mensch aus eigenem Interesse höhere Erkenntnisse finden oder sich seelisch weiterentwickeln möchte und hierzu einen Schulungsweg ergreift. Auf diesem Schulungsweg erwirbt der Mensch die Grundlagen, wie er sich seelisch und geistig weiterentwickeln kann und immer mehr fähig wird, auf selbständige Weise höhere Erkenntnisse zu finden. Auf diesem langjährigen Weg einer seelischen und spirituellen Schulung strebt der interessierte Mensch danach, seine geistigen Ideale in eine stimmige Einheit mit dem Alltagsleben zu bringen. Hierzu wählt sich der Einzelne geeignete Schulungskurse, an denen er selbstbestimmt lernt und selber festlegt, in welchem Tempo und wie intensiv er auf diesem Entwicklungsweg vorwärts gehen möchte.

Interessant erscheint mir besonders, dass ein solcher Weg zu einer individuell entwickelten Spiritualität oder Religion bewusst auf Elemente verzichtet, die im Westen stark verbreitet sind. Worauf verzichtet individuelle Spiritualität?

 

Bewusster Verzicht auf Gruppenzugehörigkeit

Im Mittelpunkt dieser individuellen Orientierung steht die eigenständige Auseinandersetzung mit gewählten Inhalten und ein selbständiges Erforschen von Entwicklungsfragen. Nehmen wir ein Beispiel. Eine Person interessiert sich für das Thema der Lebens- oder Ätherkräfte und möchte lernen, diese im Leben zu stärken. In den Originalschriften der Anthroposophie und des Neuen Yogawillens sind diese erklärt und mit zahlreichen Beispielen beschrieben. Die Person beschäftigt sich etwa mit folgenden Fragen:

Was sind Lebens- oder Ätherkräfte?
Wie kann der einzelne Mensch Lebenskräfte selbst erzeugen?
Nach welchen Gesetzmäßigkeiten entstehen Lebenskräfte?
Wie werden diese in Yogaübungen konkret erlebt?

 


Das seitliche Dreieck – parsva trikonasana

Die Übung ermöglicht die reale Empfindung von Lebens- oder Ätherkräften, die sich in einer kraftvoll ausfließenden Bewegung in das seitlich gestreckte Bein offenbaren.

 

Eine solche Auseinandersetzung ist individuell und hierfür muss das Individuum in keine Gruppe eintreten. Der Einzelne besucht nach seinem Interesse Vorträge, Seminare oder er entscheidet sich zu längeren Studienkursen, etwa zu einer Yogalehrerausbildung oder zum Studium des geistigen Schauens.

Er begegnet in solchen Seminaren oder Studiengängen verschiedenen Menschen, mit denen das Thema bewegt und erforscht wird. Deswegen tritt man jedoch in keine Gruppe ein.

 

Ungünstige Tendenzen von Gruppenzugehörigkeit

Der Eintritt und die Zugehörigkeit in eine spirituelle Gruppe kann durchaus kritische Tendenzen mit sich bringen, die in der Folge zu Abhängigkeiten und Blockaden in der Entwicklung führen können. Zwei kritische Aspekte möchte ich anführen:

• Viele Menschen suchen in spirituellen Gruppen Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit. Wenn solche Bedürfnisse bei einzelnen Mitgliedern bestehen, so wird nach meiner Erfahrung eine inhaltliche Auseinandersetzung zäh und lähmend. Es geht nicht primär um inhaltliche Auseinandersetzung, sondern um ein Gewinnen von Gefühlen. Geht jemand zu einem Fußballverein um der Geselligkeit willen, so wird er diese Gefühle suchen und ist weniger daran interessiert, sich fußballerisch weiterzuentwickeln.

• Ungünstiger Einfluss durch „heimliche Gurus“. In religiösen oder spirituellen Gruppen gibt es häufig Personen, welche die Meinung bestimmen wollen, andere überzeugen oder sogar eine Leitfigur sein wollen. Je mehr eine außenstehende Person unangemessen Einfluss nimmt auf den eigenen Entwicklungsweg, umso mehr entstehen Abhängigkeiten und ein Verlust an spiritueller Selbstbestimmung.

 


Meditation in einer spirituellen Gruppe

 

 

Bewusster Verzicht auf Zugehörigkeit zu einer Institution

Gerade in diesen Tagen sind die aktuellen Zahlen über die Kirchenaustritte im Jahr 2018 in Deutschland erschienen. Im alltäglichen Leben verabschieden sich immer mehr Menschen aus der katholischen und evangelischen Kirche. Hauptsächlich sind es finanzielle Gründe oder Gründe der Unzufriedenheit mit diesen etablierten Institutionen. Manche Menschen finden diese Entwicklung gut, manche sehen diese mit Sorge, weil sie die „christlichen Werte“ in Gefahr sehen.

Religiöse Institutionen können einen selbstbestimmten Weg zu gelebter Religion oder Spiritualität erschweren oder verhindern. Einige ungünstige Einflüsse aus der Praxis möchte ich anführen:

• Die Katholische Kirche verbreitet Irrtümer und Ideologien und macht diese für ihre Mitglieder verbindlich. Sie vertritt die Ideologie, der Mensch benötige die kirchliche Mitgliedschaft und die Teilnahme an deren Sakramenten, um das Heil der Seele zu erlangen. Wer über diese Aussage tiefer nachdenkt und diese prüft, der wird die Unstimmigkeit einer solchen Aussage bemerken. Übernimmt jemand auf passive Weise eine solche falsche Ideologie, so kann leicht eine Passivität eintreten, weil man sich des klerikal versprochenen Seelenheils sicher ist.

 

• Ungünstige Wahrheitsansprüche. Es geschieht sehr leicht, dass man sich innerhalb der Zugehörigkeit zu einer spirituellen Bewegung oder Einrichtung auf der „richtigen Seite“ fühlt.
Durch das Zugehörigsein zur Anthroposophie, zu einer bestimmten Yogarichtung glaubt man leicht insgeheim, die „Wahrheit gefunden zu haben.“ Wie leicht können sich in Gesprächen dann unangenehme belehrende Wahrheitsansprüche zeigen?

 

• Eine häufige Tendenz in religiösen oder spirituellen Einrichtungen ist es, dass die Auseinandersetzung zu sehr intern stattfindet und sich verengt. Es mangelt der Blick nach Außen zu anderen Richtungen und die Begegnung mit Menschen, die andere Entwicklungswege gewählt haben. Gerade der interreligiöse oder philosophische Dialog mit Menschen, die einen anderen Entwicklungsweg gehen, kann für alle Beteiligten lehrreich und erweiternd sein. Wer möchte durch Spiritualität einseitig werden oder sich verengen?

 

• Kirchen machen ihren Mitgliedern nicht selten einengende Vorgaben oder moralische Vorschriften, wie sie ihr religiöses oder spirituelles Leben zu gestalten haben. Es entsteht eine Art Bevormundung und dem Individuum wird eine eigene Urteilsfähigkeit und ein freier Gestaltungsraum für seine Entwicklung zu wenig zugestanden.

 

Individuelle Spiritualität verzichtet auf die Zugehörigkeit zu einer Institution, zu einer Kirche oder Gesellschaft, die das religiöse oder spirituelle Leben „organisieren“. Die Bücher und Inhalte des Neuen Yogawillens stehen allen Menschen zur freien Verfügung, eine Organisation oder irgendeine Art „spiritueller Gesellschaft“, in die man eintreten könnte, existiert nicht. Es ist deshalb eine für unsere Zeit ungewöhnlich freie und individuelle Form eines Entwicklungsweges. Der Einzelne ist durch diese Freiheit von Institutionen auf sich gestellt und benötigt Mut für einen selbstbestimmten Weg.

 

Innerhalb der Anthroposophie gibt es zahlreiche Menschen, die sich auch unabhängig von einer Institution mit geistigen Schriften und Übungen auseinandersetzen. Nach meiner Erfahrung gibt es unterschiedliche Erfahrungen mit anthroposphischen Einrichtungen, viele positive wie auch manche negative. Im Vergleich zum Neuen Yogawillen gibt es in der Anthroposophie mit dem Goetheanum in Dornach ein öffentliches Zentrum und in vielen Städten gibt es anthroposophische Gesellschaften, in denen der Einzelne Mitglied werden kann.

Individuelle Spiritualität bedeutet, eigenständig auf spirituelle Quellen zuzugehen, sich Inhalte auszuwählen, diese zu studieren, zu erforschen, durchaus kritisch zu hinterfragen und immer mehr fähig zu werden, die Richtigkeit von spirituellen Inhalten eigenständig zu beurteilen. Hierfür benötigt der Einzelne vielleicht Anregungen zur Auseinandersetzung, man braucht dafür aber nicht in eine Kirche oder Institution eintreten.

 

Bewusster Verzicht auf die Führungsfigur eines Meister, Gurus oder Papstes

Viele Menschen tragen in sich eine Sehnsucht nach einer Autorität oder Führungsperson, die Ratschläge gibt oder die in Krisenphasen eine klare Anweisung gibt, was zu tun ist. Es ist grundsätzlich leichter und bequemer einem Meister, einem Guru oder einem Papst bzw. der Kirche zu folgen als einen spirituellen oder religiösen Verwirklichungsweg selbstbestimmt gehen zu lernen.

 


Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, beschäftigte sich in seinen Vorträgen mit den Besonderheiten verschiedener spiritueller Entwicklungswege.
Das indische Guru-System schätzte er für die europäische Kultur als nicht möglich und ungeeignet ein.
1)

 

Individuelle Spiritualität bedeutet aber nicht, dass der Einzelne völlig autonom „sein Ding macht“ und nur seiner Subjektivität folgt. Ein Entwicklungsweg bedeutet, sich weisheitsvolle Inhalte zu erarbeiten, zum Beispiel was Grenzüberschreiten im Yoga bedeutet, und aus einem gereiften Verständnis zum Grenzüberschreiten das alltägliche Leben zu gestalten. Der spirituelle Weg entwickelt sich aus diesem wachsenden inhaltlichen Verstehen.

Kann der Einzelne einen solchen Weg alleine gehen oder benötigt er hierfür einen geeigneten Lehrer? Nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen ist es klug und förderlich, sich einen kompetenten Lehrer für seine seelisch-spirituelle Entwicklung zu suchen. Wenn jemand Klettern lernen möchte, so wird er sich einen guten Kletterlehrer suchen, der die Möglichkeiten und Grenzen dieser Sache kennt und den Interessenten bestmöglich fördern kann. Im Bereich der Spiritualität ist es nicht viel anders, nur dass dieses Gebiet komplexer und nicht so leicht überschaubar erscheint.

Heinz Grill hat in seiner Arbeit mit spirituell interessierten Menschen den Ansatz des sozialen Prozesses entwickelt. Im persönlichen Gespräch mit ihm als Lehrer drückt der Interessent seine Entwicklungsziele aus. Im Gespräch werden diese Ziele erwogen, weitergedacht, konkretisiert und schließlich nächstmögliche Praxisschritte vorgedacht. Oder es erfolgt eine Korrektur des Zieles, wenn es sich für die Entwicklung als ungeeignet erweist. Nach einigen Monaten oder einer gewissen Zeit findet eine nächste Begegnung statt und das gemeinsame Ziel wird auf neue Weise in ein Entwicklung gebracht.

Es gibt keinerlei „Gehorsamspflicht“ im Sinne des privaten Lebenswandels oder eines verpflichtenden Studiums. In diesem sozialen Prozess bleibt der spirituelle Interessent selbstbestimmt und gestaltet sein Leben weiter in Eigenverantwortung. Dieser soziale Prozess ist das genaue Gegenteil eines hierarchischen Guru-Verhältnisses, in dem ein Guru oder Meister autoritativ hierarchische Anweisungen an Schüler gibt.

Die Angriffe der Kirche auf Heinz Grill, die oft versteckt stattfinden, zielen nach meiner Einschätzung im Kern darauf ab, eine von Gruppen, Institutionen oder Gurus unabhängige Spiritualität zu verhindern. Denn je mehr Menschen die enormen Möglichkeiten dieser selbstbestimmten Entwicklung entdecken, umso mehr gehen diese Menschen auf Distanz zu den Kirchen. Und damit werden Kirchen oder religiös-spirituelle Einrichtungen zunehmend überflüssig.

In der Philosophie einer individuellen Spiritualität verzichtet der Einzelne bewusst auf eine spirituelle oder religiöse Führungsfigur. Es gibt keinen Guru, Meister oder Priester, der eine hierarchische Führung oder eine Fremdbestimmung über das Individuum ausübt.

Vielmehr strebt ein Interessent, der sich seelisch und spirituell weiterentwickeln möchte, nach einem guten Verständnis des Weges einer individuellen Spiritualität, um diesen Weg immer mehr in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung gehen zu können. Eine bequeme, passive Anbindung an einen Guru, Meister oder eine Führungsfigur würde der Philosophie einer individuellen Spiritualität widersprechen.

Ein zweiter Teil folgt. Im zweiten Teil wird der Begriff Spiritualität näher untersucht und was es heißen könnte, dass der Einzelne heute langsam seine spirituellen Möglichkeiten entdecken lernt.

 

1)Vgl. Rudolf Steiner: Okkulte Entwicklung – Vortrag vom 2. September 1906. Rudolf-Steiner Nachlassverwaltung. Buch 95. Seite 120 ff.